Turnfahrt – Biberschwänz VS Güggle
Wir schreiben das Jahr 2024 n. Chr. Acht Vollmonde sind bereits vergangen, der neunte steht kurz bevor. Die Nächte werden wieder länger, und der erste Schnee liegt bereits greifbar nahe. Das ganze Land bereitet sich langsam auf den bevorstehenden Winter vor und verzieht sich in die warmen Stuben. Das ganze Land? Nicht ganz! Eine muntere Schar folgt dem Ruf der vier jüngsten Mitglieder der Turnerfamilie und versammelt sich eines frühen Morgens bei der Postkutschenhaltstelle. Wohin es gehen sollte, wusste noch niemand, nur dass mit Temperaturen im mittleren einstelligen Bereich und Wasser von oben zu rechnen war.
Damit niemand den Start der Reise ins Unbekannte mit der grossen gelben Postkutsche verpasste, wurde der Besammlungszeitpunkt sehr früh angesetzt. Was, wenn nun alle der Schar voller Tatendrang sind und mehr als pünktlich bereitstehen? Dann wird eben gewartet; auf dem Lande war das in jener Zeit noch üblich. Nichtsdestotrotz fielen bereits die ersten Sprüche, was die Stimmung der Truppe nur noch verbesserte.
Auf dem Weg in die nächste grosse Stadt wuchs die Schar noch um einige Teilnehmer an, bis sie schliesslich komplett war und gemeinsam die Postkutsche auf Schienen bestieg. In dieser folgten weitere Infos, unter anderem, dass es der Gesundheit zuliebe eine Reise ohne Zaubertrank werden sollte. Einige Teilnehmer waren daraufhin schon bereit, die Postkutsche beim nächsten Halt zu verlassen, konnten aber im letzten Moment noch überzeugt werden, trotzdem zu bleiben.
Alle erhielten ein Bündel, versehen mit dem Namen und einer Zeichnung des Besitzers, welche ihn von seiner besten Seite zeigte. Somit sollte es zu keinen Verwechslungen kommen und alle waren gut gerüstet. Im Bündel enthalten war Notfallproviant, mehrere nummerierte Schriftrollen, die nur auf Befehl geöffnet werden durften, ein Notfallcouvert und eine wetterfeste Wachstafel mit dem Text des viel gesungenen Dorfliedes.
Die Postkutsche führte die Schar über Wiesen und Felder, durch die Kantonshauptstadt, an mehreren Seen und Flüssen entlang bis zur Endhaltestelle in einem Dorf namens Sprechgesangs-Wil. Dort wurde auf eine andere schienengeführte Postkutsche umgestiegen, welche sie an einem See gegenüber des schlafenden Napoleons wieder verlassen mussten. Zur allgemeinen Beruhigung durfte nochmals eine kleinere gelbe Postkutsche bestiegen werden, um die steil aufragenden Felsen am Seeufer zu erklimmen. In der Nähe eines Trainingszentrums für die wahren Gladiatoren der damaligen Zeit war aber definitiv Endstation, und es ging zu Fuss weiter. Der Marsch war nur von kurzer Dauer, und der Stopp folgte schon, bevor man überhaupt warmgelaufen war.
Es folgte der Befehl, die Nummer 1 aus den Beuteln auszupacken. Gross war die Erleichterung bei den meisten, als eine kleine Flasche Zaubertrank zum Vorschein kam, welche nach diesem herausfordernden Marsch der allgemeinen Gesundheit sicher nicht schaden konnte. Befehle musste man zu jener Zeit noch ohne Wenn und Aber befolgen, und so nahm jeder seine Dosis des Tranks.
Danach durfte die Schar Gebrauch von einer grossen Errungenschaft früherer Generationen machen und sich bequem paarweise in Sesseln an einem Seil den Berg hochziehen lassen. Dabei galt es nur eine Aufgabe zu bewältigen: Ein Satz wurde Wort für Wort von der Spitze der Gruppe bis ans Ende weitergeleitet, wie es zu jener fernen Zeit noch üblich war – mittels lautem Geschrei und wildem Gestikulieren. Der Satz lautete:
«Infolge einer Lebensmittelunverträglichkeit musste die Schnellkrafttrainingsübungsleiterin des Turnvereins Ottenbach, trotz detaillierter Katastrophenfallpläne, das Training absagen.»
Dabei konnte ja eigentlich nichts schiefgehen…
Als alle auf dem Berg angekommen waren, war es Zeit für eine grössere Stärkung, und die Schar verteilte sich an alle möglichen wind- und wettergeschützten Stellen, um sich am mitgebrachten Proviant zu stärken. Zum grossen Glück hatte eine nahegelegene Taverne bereits geöffnet, sodass die Kälte nach diesem Mahl mit einem oder zwei warmen Zaubertränken ausgetrieben werden konnte.
Noch an der Wärme wurden die Beutel gebraucht, und prompt hatte jemand zwei bei sich verstaut, was zu einer grösseren Suchaktion führte. Waren die Inhalte eben doch sehr begehrt oder die Zeichnungen doch nicht so eindeutig? Man weiss es nicht mehr so genau.
Es folgte ein Gedächtnistrainingsspiel, bei dem die einen sehr gut abschnitten und die anderen, na ja, eher weniger. Doch eigentlich sollte dies die Schar nur auf eine Kultur aus fernen Ländern vorbereiten, mit der sie sich am Nachmittag auseinandersetzen musste – die Highland Games.
Kurzerhand wurden kulturgerechte Trachten angezogen, die Schar in zwei Teams aufgeteilt und Gruppennamen definiert. Dieser Augenblick war die Geburtsstunde der noch heute weltbekannten «Biberschwänz» und «Güggle». Es folgte ein epischer Wettkampf: Baumstämme, Hühner, Hämmer, Strohsäcke und Äxte flogen durch die Luft, mörderische Duelle auf dem Todesbalken und am dicken Hanfseil, waghalsige Sprints mit einem Baumstamm durch Hindernisse und vieles mehr. Der Wettkampf wird noch heute in diversen Geschichtsbüchern analysiert und lockt mit Neuverfilmungen ein Millionenpublikum in die Kinos. Ganz zu schweigen vom legendären Rap-Battle, das eine neue Musikrichtung hervorbrachte und ganze Generationen prägte.
Nach dem Wettkampf wurde gemeinsam bei einigen warmen Zaubertränken gefeiert, die Heldentaten gewürdigt und natürlich das Dorflied gesungen. Dann war die Zeit für das Nachtessen bereits gekommen, und die Schar zog sich in die Taverne zurück, in welcher sie auch die Nacht verbringen würde. Nach der Stärkung wurde es sehr spannend: Es wurden Fakten zu den Mitgliedern vorgelesen, die der richtigen Person zugeordnet werden mussten. Was da alles zum Vorschein kam…
Es folgten noch ein paar Runden des sehr beliebten Spiels namens Werwölfe, bei dem unter viel Witz und Gelächter munter gemordet wurde. Den Rest des Abends liess die Gruppe bei einigen Zaubertränken und Kartenspielen ausklingen.
Bald nachdem der Hahn krähte, versammelte sich die Gruppe zu einem ausgiebigen Frühstück. Das Wetter hatte sich gebessert, und die Sonne lockte alle nach draussen. Das Ziel des Tages war ein höher gelegener See, und so zog die Schar voller Tatendrang los, diesen zu erreichen. Kein Berg war zu hoch, kein Graben zu tief, schneebedeckte und vereiste Wege – durch nichts liessen sie sich stoppen. Doch dann tauchten ein paar gigantische Tiere mit Hörnern auf (nein, nicht die Spräggele, die im Vergleich dazu richtig niedlich aussehen würden), und die Schar musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um diese zu passieren. Doch das Vorhaben glückte, und der See, umgeben von einer märchenhaften Winterlandschaft, wurde erreicht.
Erschöpft liess sich die Schar nieder und gönnte sich eine Rast auf einem schneefreien Stein in der Sonne. Während einige die Ruhe genossen und versuchten, das Schlafdefizit etwas aufzubessern, mussten andere bereits wieder überschüssige Energie loswerden, und so flogen bald die ersten Schneebälle hin und her.
Die Zeit verging viel zu schnell, und schon stand der Rückweg aus diesem Märchenland an. Bei einem weiteren See wagten sich einige Wagemutige ins Wasser – es kam damals immer sehr gut zu Hause an, wenn man frisch gewaschen auftauchte. In einer Gaststätte am Wegesrand wurde noch gemeinsam ein Zaubertrank genommen, bevor es zurück zur Taverne ging, um das Gepäck abzuholen.
Das Gepäck wurde auf die Sitze am Seil geladen, während auf die Schar nochmals ein Highlight wartete: Den Berg hinunter ging es auf Trottinetts – noch ohne Elektromotor. Die Fahrt war rasant und viel zu schnell vorbei, doch alle kamen heil unten an.
Danach ging es denselben Weg wie am Vortag mit den unterschiedlichen Postkutschen zurück ins Heimatdorf. Alle Mitglieder waren froh, dass sie sich noch nicht in den warmen Hütten verkrochen hatten und Teil dieser legendären Reise waren. An den langen Winterabenden wurden die Heldentaten dieser beiden Tage immer und immer wieder über Generationen an den warmen Feuern in den Hütten erzählt. Dabei wurde jedes Mal ein grosses Lob an die jüngsten Mitglieder ausgesprochen, die dieses Abenteuer organisiert hatten. Und wenn ihr euch heutzutage um den neunten Vollmond gut achtet, erspäht ihr vielleicht auch so eine muntere Schar, die durchs Land zieht.
— Dominik von Aesch —